ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE VON BELGIEN

Das Industriezeitalter des europäischen Kontinents begann in Belgien, denn dort bestanden ähnlich gute Voraussetzungen wie in England: Bereits seit dem 13. Jahrhundert wurde Steinkohle in den Tälern von Maas und Sambre abgebaut, ab dem 16. Jahrhundert entwickelte sich in Charleroi und Lüttich die Verarbeitung von Eisen, in Verviers die Woll-Spinnerei. In den flandrischen Städten Gent und Brügge florierte die Herstellung von Leintuchen, in Antwerpen, dem boomenden Zentrum von Seehandel und Gewerbe, wurde schon 1531 eine Börse eröffnet, Vorbild für London und Amsterdam. Zudem erleichterten die großen Ströme Maas und Schelde den Warentransport und die effiziente Landwirtschaft bescherte den Großgrundbesitzern Investitionskapital.

So wurde in Belgien erstmals auf dem Kontinent eine der revolutionären britischen Maschinen installiert: Ab 1720 förderte Thomas Newcomens Dampfmaschine in einem Kohlebergwerk bei Lüttich das Grubenwasser nach übertage. Wenig später nahm im Revier zwischen Mons, Charleroi und Namur eine Zeche nach der anderen eine Dampfmaschine in Betrieb. Damit konnte man größere Tiefen erschließen und noch vor der Jahrhundertwende setzte der industrielle Steinkohlen-Abbau ein.

Einen kräftigen Schub bekam die Wirtschaft in Flandern und in der Wallonie unter der französischen Herrschaft von 1794 bis 1815: Napoleon ließ die Zünfte aufheben und Gewerbefreiheit einführen, zugleich entfielen die Zollschranken für den großen französischen Markt, gerade für die begehrte Kohle, die von der Region um Mons durch einen neu erbauten Kanal ins nordfranzösische Condé und weiter bis Paris transportiert wurde. In Gent schwirrten die Spindeln auf der ersten Baumwoll-Spinnmaschine: Der Unternehmer Lievens Bauwens hatte 1798 eine „Spinning Jenny“ aus England eingeschmuggelt und nachgebaut. Mit einem neuen Kanal nach Terneuzen in der Schelde-Mündung bekam die Stadt eine direkte Verbindung zum Meer und entwickelte sich zum „flandrischen Manchester“.

Ein Brite sorgte für den nächsten bahnbrechenden Fortschritt: 1799 installierte William Cockerill in Verviers die erste Woll-Spinnmaschine des Kontinents, danach baute er in Lüttich eine Maschinenfabrik auf. Wenige Jahre später begann sein Sohn John im nahegelegenen Seraing an der Sambre sehr erfolgreich mit der Eisenerzeugung. „Cockerill-Sambre“ produziert unter dem Dach des „Arcelor-Mittal“-Konzerns noch heute Stahl. 1822 entstand die „Société Générale“, die erste Aktienbank, und bald darauf die Banque de Belgique. Beide stellten gezielt Investitionskapital für den Aufbau der Industrie bereit: Belgien war auch im Finanzwesen ein Vorreiter und spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Ruhrgebiets in Deutschland.

Der große Schub setzte nach der Unabhängigkeit 1830 ein. Brüssel wurde modernisiert, an den Ufern der Senne siedelten sich Industriebetriebe an. Dazu trug auch ein weiterer neuer Kanal bei, auf dem Kohlenschiffe von Charleroi in die Hauptstadt und weiter nach Antwerpen fahren konnten. Der Staat kurbelte die Wirtschaft mit dem Ausbau der Transportwege zielstrebig an – die frühzeitige Planung des Eisenbahnnetzes erweis sich als entscheidender Schritt. 1835 rollte ein Zug von Brüssel nach Mechelen – das erste Teilstück der Fernstrecke von Antwerpen über die aufblühenden Industriestädte Lüttich und Verviers nach Köln, die 1843 als erste internationale Bahnverbindung eröffnet wurde. Zuvor hatte man schon die Textilstädte Gent und Brügge an den Hafen von Ostende angeschlossen. Den ersten Zug hatte noch eine britische Lokomotive gezogen, aber schon im selben Jahr rollte eine belgische Lok aus den Werkshallen von Cockerill in Seraing und bald entstanden in der Eisenindustrie der Wallonie weitere Lokomotivfabriken.

Für gut hundert Jahre florierte von nun an ein Industriegürtel, der sich von Mons und Charleroi im Westen durch die Täler von Sambre und Maas nach Lüttich zog und kurz vor der deutschen Grenze beim Städtchen Kelmis endete, wo die „Société Vielle Montagne“ 1837 mit der Herstellung von Zink begonnen hatte. In den Kohlenzechen, die zum guten Teil in den Händen französischer Bankiers waren, stieg die Förderung kontinuierlich an, zugleich aber erlangte das Revier – vor allem der „Borinage“ im äußersten Westen – traurige Berühmtheit wegen der katastrophalen Arbeitsbedingungen und der miserablen Löhne. Die Arbeiter setzten sich in erbitterten Streiks zur Wehr und die Region entwickelte sich zu einem Zentrum der frühen europäischen Arbeiterbewegung.

Lüttich mit seiner Umgebung, durch Bahnlinien und die Maas mit ihren Seitenkanälen bestens vernetzt, wuchs zu einer Industriemetropole, in der neben Stahlwerken und Maschinenfabriken auch Glasherstellung und Waffenproduktion boomten. In Verviers florierte weiterhin die Wollweberei, bei Charleroi gründete der Chemiker Ernest Solvay 1865 eine Fabrik für die Erzeugung von Soda, einen Grundstoff für Kunstdünger, Glas und Seife, nach einem selbst entwickelten neuen Verfahren. Der Chemie-Konzern gleichen Namens besteht bis heute. 1901 wurde im „Kempenland“ in der Provinz Limburg Steinkohle gefunden und auch dort wuchsen Fördertürme in die Höhe.

In Flandern jedoch bildeten nur Gent mit seiner Baumwoll– und Leinen-Produktion sowie der immer weiter expandierende Überseehafen Antwerpen industrielle Kerne. Zwischen dem frankophonen und dem flämisch-sprachigen Teil des jungen Staats hatte die Industrialisierung ein brisantes Wohlstandsgefälle hervorgebracht.