ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE DER TSCHECHISCHEN REPUBLIK
Die Industrialisierung im heutigen Tschechien, also den lange habsburgischen Ländern Böhmen und Mähren und einem Teil Schlesiens, nahm in vieler Hinsicht einen typischen, den Anfängen in Großbritannien ähnlichen Verlauf: Die florierende Landwirtschaft kreierte Überschüsse, die in den Aufbau von Fabriken flossen, und das Bevölkerungswachstum lieferte die nötigen Arbeitskräfte. Ein Unterschied liegt jedoch im starken Einfluss des Adels, der für Wirtschaft und Gesellschaft des gesamten Habsburger-Imperiums charakteristisch war. Die adeligen Gutsherren modernisierten in Böhmen und Mähren nicht nur ihre Agrarproduktion, sondern begründeten auch eine bedeutende Nahrungsmittelindustrie, insbesondere die Zuckerherstellung aus Rüben und die Bierbrauereien. Darüberhinaus investierten sie in die früh aufblühende Textilproduktion, den Bergbau und die Eisenverhüttung.
Die Mechanisierung setzte bereits 1797 ein, als Johann Josef Leitenberger in Verneřice (damals Wernstädt) die erste Baumwollspinnmaschine aufstellen ließ, angetrieben von Wasserkraft. 1801 folgte in Varnsdorf der erste mechanische Webstuhl, wenige Jahre später standen in Böhmen und in Mähren die ersten Dampfmaschinen. Die Textilproduktion florierte vor allem in Brno (deutsch Brünn), das als "mährisches Manchester" galt. Als sich dort noch der Maschinenbau etablierte, avancierte die Stadt zu einem der wichtigsten Industriestandorte des Reiches.
Aufgrund der reichen Vorkommen an Kohle und Eisenerz entstanden frühzeitig auch Kohlebergwerke und Eisenhütten: In Böhmen um die Städte Liberec (Reichenberg) und Pilsen, in Mähren vor allem in Vitkovice (Witkowitz), wo der Olmützer Erzbischof Rudolf ein Stahlwerk begründet hatte. Der Wiener Eisenbahn-Experte Franz Xaver Riepel führte dort 1830 den britischen "Puddelofen" ein, auf dem man hochbelastbares Eisen u.a. für die Herstellung von Schienen erzeugen konnte. Auch die chemische Industrie blühte schon im ersten Viertel des Jahrhunderts auf, vor allem dank der Initiative des böhmischen Unternehmers Johann David Starck. Der Maschinenbau im Pilsener Raum ging wiederum auf die Investition eines Adeligen zurück: Ernst Fürst von Waldstein-Wartenburg gründete dort 1859 eine Fabrik, die Emil Škoda unter seinem eigenen Namen später zu einem der größten europäischen Unternehmen der Schwerindustrie ausbaute.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Industrialisierung bereits verstetigt: Neue Eisenbahnlinien verbanden die Zentren Böhmens und Mährens mit Wien, die Elb-Schifffahrt wurde ausgebaut und der Export nach Österreich, Deutschland sowie in die wenig industrialisierten Nachbarstaaten im Osten und Südosten boomte. Die Länder Tschechiens hatten einen Industrialisierungsgrad erreicht, der dem Mitteleuropas in nichts nachstand und nahmen innerhalb des Habsburger-Reiches die Spitzenstellung ein.
Die sozialen Folgen waren jedoch dramatisch. Schon die Mechanisierung der Textilherstellung stürzte Hunderttausende Heimarbeiter in die Arbeitslosigkeit, zudem blieb Innerböhmen lange agrarisch geprägt. Da die Bevölkerung schneller wuchs als die expandierenden Industrien und die ländliche Armut viele in die neuen industriellen Ballungsräume trieb, konnten die Unternehmer Löhne zahlen, die eben noch das Existenzminimum abdeckten. So sammelte sich in den erbärmlichen Ghettos der großen Städte ein Proletariat aus Industriearbeitern, verarmten Handwerkern, Fuhrleuten und Dienstboten. Zugleich verschärften sich die nationalen Gegensätze: Der Zuzug tschechisch-sprachiger Landarbeiter aus Innerböhmen verwandelte ehemals von Deutschen dominierte Zentren wie Prag und Brno in tschechisch geprägte Städte. Und im tschechischen Bürgertum stärkten Modernisierung und wirtschaftlicher Erfolg Nationalbewusstsein und Freiheitsdrang.
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts beschleunigte sich die Industrialisierung noch, auch weil dank einer günstigen Agrarkonjunktur zunehmend Kapital verfügbar wurde. Neben dem Genossenschaftswesen entstanden neue Bankhäuser, vor allem in Prag. 1871 folgte eine Wertpapier-, 1887 eine Warenbörse und die Stadt etablierte sich als Wirtschaftsmittelpunkt. 1888 wurde im mährischen Adamov (Adamsthal) das erste Auto der K.u.K.-Monarchie gebaut. 1895 folgte die Gründung des Motorrad- und Autoherstellers Laurin & Klement, der nach dem Ersten Weltkrieg im Škoda-Konzern aufging. Gegen Ende des Jahrhunderts erfasste die Industrialisierung schließlich auch die ländlichen Teile Böhmens.