ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE VON BULGARIEN

Dramatische politische Umbrüche haben die Wirtschaftsgeschichte Bulgariens geprägt und die Industrialisierung lange verhindert. Zwar entstand schon 1834 eine Textilfabrik in Sliven, die als erste des gesamten Balkan gilt, doch das Land blieb noch über hundert Jahre ein Agrarstaat. Zudem produzierten die Bauern mit althergebrachten Methoden für den familiären Bedarf, aber nicht für den Markt und erwirtschafteten keine Überschüsse. Als Bulgarien 1878 vom Osmanischen Reich unabhängig wurde, fehlte daher das Kapital für den Aufbau einer Industrie, der Staat war schon damals auf Investitionen aus dem Ausland angewiesen. Immerhin entstanden weitere Textilfabriken – etwa in Gabrovo, dem traditionellen Zentrum der Woll-Verarbeitung – und Werke für die Lebensmittelproduktion. Eine erste Eisenbahnstrecke war schon 1866 gebaut worden: Von Russe an der Donau zum Schwarzmeerhafen Varna, wo man in Dampfer nach Istanbul umsteigen konnte. Ab 1888 verkehrte der „Orientexpress“ von Wien über Belgrad und Sofia bis Istanbul und verband mit Sofia und Plovdiv auch die beiden städtischen Zentren Bulgariens. Die selbe, jahrhunderte-alte Route wurde auch im Straßenverkehr die bedeutendste Nord-Süd-Verbindung des durch seine Gebirgszüge schwer erschließbaren Landes.

Den Ausbau der Lebensmittel- und Textilfabrikation nach dem Ersten Weltkrieg finanzierten wieder ausländische Investoren. Ab 1934 nahm der deutsche Einfluss zu und mündete schließlich in eine weitgehend vom Deutschen Reich bestimmte Wirtschaftspolitik. So verlief 1944 der Übergang in eine von der Sowjetunion bestimmte, zentral gelenkte Wirtschaft undramatisch, um so drastischer war jedoch der von der UdSSR geforderte kompromisslose Einsatz aller Produktivkräfte für die Industrialisierung des Landes. Die Regierung nutzte alle vorhandenen Mittel, um Stahlhütten, Maschinenfabriken und chemische Werke aus dem Boden zu stampfen, vernachlässigte dafür die ohnehin rückständige Landwirtschaft und mutete der Bevölkerung schwere Mängel in der Versorgung zu.

1948 war die Verstaatlichung aller Betriebe abgeschlossen. Zu den neuen Vorzeigeprojekten gehörten ein Kombinat für Metallverarbeitung in Pernik, wo schon seit Ende des 19. Jahrhunderts Kohle abgebaut wurde, sowie Chemiewerke und Kohlezechen um die neue sozialistische Musterstadt Dimitrovgrad. Das Prestigeobjekt schlechthin stellte das gigantische Stahlwerk in Kremikovci dar, das Unsummen kostete, nach der Eröffnung 1963 nie ausgelastet war und trotzdem mehr Stahl erzeugte als gebraucht wurde. Gefördert wurde auch der Schiffbau in Varna und Burgas am Schwarzen Meer, der vor allem die Sowjetunion belieferte. Erfolge im Maschinenbau illustriert der Gabelstapler-Hersteller Balkancar, der heute noch am Markt ist.

Der teuer bezahlte Kraftakt machte Bulgarien in den sechziger Jahren zum Industriestaat, aber das Wachstum wurde mit einem ständig steigenden Bedarf an Rohstoffen und Arbeitskräften erkauft. Die Sowjetunion lieferte Erdöl, Kohle und Eisenerz zum Freundschaftspreis und nahm im Gegenzug einen Großteil der bulgarischen Exporte ab. Da das Land mit der westlichen Wirtschaft nicht mithalten musste, unterblieb die Modernisierung von Anlagen und Produkten. In den 60er und 70er Jahren besserte sich die Versorgung mit Konsumgütern, doch Geld für die Instandhaltung der Wohnungen und der Verkehrsinfrastruktur fehlte. Korrekturen der Wirtschaftspolitik brachten wenig. In den Achtzigern versuchte die Regierung, eine eigene Computerindustrie aufzubauen und intensivierte den Handel mit dem Westen: Eine rapide steigende Auslandsverschuldung war die Folge. Einen Lichtblick brachte nur die Öffnung der Strände am Schwarzen Meer für den Tourismus.

So stürzte das Land beim Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems in eine tiefe Krise. Der Energie-Import wurde fast unbezahlbar, die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe, die Inflation galoppierte. Mittlerweile haben die gewählten Regierungen einen großen Teil der Staatsbetriebe privatisiert und die Wirtschaft mithilfe internationaler Kreditgeber stabilisiert. Der Beitritt zur Europäischen Union 2007 verhalf zu einem bescheidenen Wachstum. Häfen und Fernverkehrsstraßen werden nach und nach ausgebaut. 2013 konnte man – nach der „Freundschaftsbrücke“ von 1954 – eine zweite Brücke über die Donau eröffnen. Mit sehr niedrigen Unternehmenssteuern versucht Bulgarien jetzt, ausländische Firmen anzuziehen, doch Industrien auf höherem technologischen Niveau sind bisher rar. Die Wertschöpfung durch Exportgüter wie Kleidung, Schuhe und Stahl bleibt gering. Das Land ist weiterhin von Erdgas aus Russland abhängig, mehr als 20 % der Bulgaren leben unter der Armutsgrenze.