ZUR GESCHICHTE DER SCHNEIDWARENINDUSTRIE

Kaum ein Gewerbe blickt auf eine ähnlich alte Tradition zurück wie die europäische Schneidwarenindustrie. Die war ehemals weit verbreitet und siedelte sich an Orten an, die über Wasserkraft verfügten oder in der Nähe wichtiger Handelszentren oder -routen lagen. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts führte zu einer Konzentration auf wenige, europaweit verstreute Gewerberegionen, die – eine typische Erscheinung der Zeit – einander mehr ähnelten als die benachbarten Industrieregionen eines Landes. Diese internationalen Verbindungslinien sind einer der Gründe, warum Bergische Unternehmer ihre Betriebe „Cromford“, „Birmingham“ oder „Sheffield“ nannten. Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts orientierte sich das Bergische Land am Vorbild Englands, während es im Verhältnis zum preußisch-deutschen Umland seinerseits Pionierstellung einnahm.

Industrialisierung der Schneidwarenproduktion

Ursprünglich fertigten vor allem kleine Handwerksbetriebe wie jene in Laguiole oder Langres (Frankreich) Schneidwaren an. Wasserkraft als Antrieb von Hammerwerken, Blasebälgen oder später auch Schleifereien bot dem Gewerbe günstige Entwicklungschancen und verzögerte an vielen Orten – etwa in Thiers (Frankreich) – den Einsatz von Dampfmaschinen. Noch um 1900 waren in Solingen fast alle herkömmlichen Wasserkotten in Betrieb, obwohl längst zahlreiche Dampfschleifereien existierten. Die Einführung der Gesenkschmiedetechnik brachte hier wie andernorts in Europa einen solchen Produktivitätsfortschritt mit sich, dass der weiterhin handwerklich geprägte Schleifsektor kaum mithalten konnte. Vom Elektromotor, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Verbreitung fand, profitierten dann auch kleinere Betriebseinheiten.

Entsprechend explodierte die Zahl der kleinen Werkstätten. Solingen zählte um 1925 etwa 13.000 Heimarbeiter in Kotten, die überwiegend Eigenbesitz waren. Aber auch die Mechanisierung in den Fabriken bekam durch den Elektromotor einen kräftigen Schub. So legten Solingen und das benachbarte Wuppertal-Kohlfurth in den 1920er Jahren den Grundstein für die Schleiftechnologie, die nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit Standards setzte. Heute weist die Schneidwarenindustrie eine stark polare Struktur auf. Neben noch sehr stark handwerklich orientierten Betrieben stehen – etwa in Portugal – solche mit einem sehr hohen Mechanisierungs- oder gar Automatisierungsgrad.

Europäische Verbindungen
Die drei wichtigsten europäischen Produktionsstandorte Solingen, Sheffield (England) und Thiers (Frankreich) weisen eine Fülle von Gemeinsamkeiten auf. Sie entwickelten sich aus alten, exportorientierten Handwerken und waren eher kleinbetrieblich organisiert. Hier wie dort beherrschten Schmiede, Härter, Schleifer oder Monteure das Bild, die sich zum Teil selbst dann als „selbstständig“ betrachteten, wenn die eigene Arbeitsstätte auf dem Fabrikgelände des Auftraggebers lag. Überdies leistete Solingen anderen Standorten begehrte Unterstützung, so zum Beispiel in Klingenthal im Elsass, das sich ohne Hilfe Solinger Handwerker vielleicht kaum entwickelt hätte, aber auch in Premana (I), Gembloux (B), Maniago (I) oder Thüringen, wo überall enge Kontakte beziehungsweise Migration eine wichtige Rolle spielten, die manchmal bis heute fortbestehen.

Doch es gibt auch Unterschiede. Die traditionsreichen Standorte besitzen mittlerweile Museen zum Thema Schneidwaren, während neue Akteure wie Portugal dergleichen (noch) nicht kennen. Auch hat sich die weltweite Struktur der Branche geändert. Maschinen, die Solingen als unrentabel verschrottet, lassen sich in Spanien und Portugal unter Umständen noch profitabel einsetzen. Das bedeutet nicht, dass die technischen Standards von Land zu Land unterschiedlich wären. Manchmal weicht die maschinelle Ausstattung der Betriebe sogar innerhalb eines einzigen Standorts erheblich voneinander ab. Zudem besitzt kaum ein anderer Industriezweig eine derartige Vielfalt der Produktionsbedingungen. Das liegt an dem bis heute kennzeichnenden Musterreichtum, der es auch kleineren und technisch rückständigen Betrieben ermöglicht, Kleinserien für Marktnischen zu produzieren.

Zentren der Schneidwarenproduktion
In Deutschland war Solingen bereits im ausgehenden Mittelalter das unbestrittene Zentrum der Fertigung von Klingen, Messern und später auch Scheren. Daneben gab es an verschiedenen Orten Produktionen von lokaler Bedeutung, etwa in Steinbach (Thüringen), wo die DDR Messer produzieren ließ. Das nahegelegene Trusetal war ein weiteres Zentrum der Schneidwarenfertigung, Leegebruch bei Berlin fertigte Taschenmesser und Aue (Sachsen) Besteck für den DDR-Markt. Ansonsten gibt es bis heute größere Unternehmen in Baden-Württemberg (WMF, Giesser, Dick) sowie in Bremen (Robbe & Berking).

Frankreich besitzt gleich mehrere jahrhundertealte und bis heute aktive Schneidwarenzentren. Aus Nogent kamen einst sehr feine Luxusprodukte für betuchte Abnehmer in Paris. Das Museum in St.-Jean-de-Maurienne im französischen Jura, eingerichtet in einer ehemaligen Produktionsstätte der Familie Opinel, zieht jährlich mehr als 60.000 Besucher an, und Klingenthal im Elsass hat eine lange Tradition als königliche Waffenmanufaktur. Das Konzept des französischen „Le Thiers“-Taschenmessers hat eine ganze Generation von handwerklich arbeitenden Kleinbetrieben vor dem Untergang bewahrt und verhilft auch der namengebenden Stadt selbst zu Ansehen. In Laguiole hat die wiederbelebte Branche eine vernachlässigte Region wirtschaftlich erneuert.

Sheffield, Zentrum der britischen Schneidwarenproduktion und noch im 19. Jahrhundert unbestrittener Weltmarktführer, ist heute ein Beispiel für die Deindustrialisierung einer Stahlstadt. Von der Schneidwarenindustrie sind nur noch wenige Reste geblieben. Ein ähnliches Schicksal erlebte das belgische Gembloux. Umgekehrt haben Albacete, Brennpunkt der spanischen Schneidwarenindustrie, und Portugal einen ungeheuren Aufschwung erlebt.

Die beiden wichtigsten Standorte der italienischen Schneidwarenindustrie liegen am Südrand der Alpen: Premana östlich des Comer Sees und Maniago nördlich von Venedig. Das dortige Museum logiert in dem imposanten Gebäude eines vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Genossenschafts-Betriebes. Victorinox, der größte Taschenmesserproduzent überhaupt, ist in der Schweiz ansässig, während die österreichische Variante – Feitel – in Trattenbach nur noch im Museumsbetrieb gefertigt wird.

Schneidwarenproduktion heute
Die Schneidwarenbranche ist längst europäischer, als sie es selbst wahrhaben will. Je kapitalintensiver die Technologie wurde, desto mehr hat sie sich einander angeglichen. Zudem sind die verwendeten Techniken kein Geheimnis mehr – auch ohne Handwerker aus Solingen lässt sich andernorts eine Produktion aufbauen. Entsprechend rasant hat sich der Industriezweig in den letzten 25 Jahren entwickelt. Ehemals dominierende Zentren spielen kaum noch eine Rolle oder unterliegen dem Strukturwandel, während junge Standorte boomen. Abgesehen davon gibt es wohl kaum eine andere „alte“ Industriebranche, in der einerseits Industriemuseen und hochmoderne Betriebe sowie andererseits handwerkliche und modernste Produktionsverfahren nebeneinander existieren.


Diese Themenroute wurde gemeinsam mit dem ERIH-Ankerpunkt LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs in Solingen entwickelt.