ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE DER TÜRKEI
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das einst glanzvolle Osmanische Reich praktisch zu einer Agrar-Kolonie des Westens heruntergekommen. Aufgrund der horrenden Auslandsverschuldung stand der Staatshaushalt unter Kontrolle europäischer Banken. Der Westen diktierte die Einfuhrzölle, so dass einheimische Gewerbe nicht mit Waren aus Europa konkurrieren konnten, nicht einmal die traditionsreichen Textilhersteller. Die wenigen Fabriken, die meist Agrarprodukte wie Zucker und Mehl erzeugten, waren ebenso in ausländischer Hand wie die Eisenbahn. Und die Landwirtschaft arbeitete noch immer mit den ineffizienten Methoden vergangener Jahrhunderte.
Erst die türkische Republik, 1923 von Kemal Atatürk gegründet, konnte frei von den alten Abhängigkeiten die Wirtschaft ankurbeln. Die Agrarerträge stiegen, die Infrastruktur wurde nationalisiert und ausgebaut: 1924 gründete die Regierung die staatliche Eisenbahngesellschaft, die nach und nach die Strecken der ausländischen Besitzer übernahm und schließlich auch die Schwarzmeerküste und den Osten Anatoliens ans Netz anschloss. Nachdem das erste türkische Kraftwerk noch unter den Osmanen in Istanbul eröffnet worden war - das heutige Energiemuseum und Kulturzentrum santralistanbul -, folgten nun zahlreiche neue Elektrizitäts- und Wasserwerke.
Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 forcierte die Regierung den Aufbau der Industrie. Nach dem Vorbild der jungen Sowjetunion stellte sie Fünfjahrespläne auf und gründete in den Schlüsselbranchen Staatsbetriebe, die die türkische Wirtschaft - mit wechselndem Erfolg - bis ins 21. Jahrhundert hinein prägten. So entstand die Sümerbank, die 1935 mit einer ersten Fabrik in Kayseri den Ausbau der Textilproduktion begann.
Zur Industrialisierung des Landes kam es jedoch erst mit der liberaleren Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Um von Importen unabhängig zu werden, förderte die Regierung anfangs die Nahrungsmittelverarbeitung und richtete dann staatliche Betriebe für Zement, Dünger und Chemikalien ein. 1965 nahm das gewaltige Stahlwerk in Ereğli am Schwarzen Meer die Produktion auf.
Unter den zunehmenden privaten Gründungen war 1944 die erste Bäckerei der heute weltweit aktiven Süßwarenfirma Ülker. Ömer Sabancı, ursprünglich Baumwollpflücker, begründete 1954 in Adana mit einer ersten Textilfabrik den mittlerweile riesigen Familienkonzern. Das größte türkische Familienunternehmen aber geht auf Vehbi Koç zurück: Er eröffnete 1959 in Istanbul die Firma "Otosan", die Ford-Autos in Lizenz herstellte, einige Jahre später folgte "Tofaş" für die Produktion von Fiats. Das dritte Standbein des türkischen Autobaus, die Lizenzfertigung von Renaults, schuf Ende der sechziger Jahre die mächtige "Oyak"-Gruppe, die der Pensionskasse des türkischen Militärs gehört.
Eine solide Grundlage für die krisengeschüttelte Wirtschaft entstand jedoch nicht. Industrielle Kerne bildeten sich vor allem im Nordwesten des Landes und an der Mittelmeerküste, so dass sich eine tiefe Kluft zu den agrarischen Regionen auftat, zumal die überfällige Modernisierung der Landwirtschaft weiterhin ausblieb. Zudem schützte die Regierung die neuen Unternehmen mit Subventionen und Einfuhrzöllen vor ausländischer Konkurrenz – so blieb die Produktivität niedrig und nur wenige Güter gingen in den Export. Die Auslandsschulden wuchsen erneut dramatisch an und als die Krise von 1973 auch die Ölimporte drastisch verteuerte, stand die Türkei vor dem Bankrott.
Als Architekt der Wende nach 1980 gilt der spätere Minister- und Staatspräsident Turgut Özal. Er leitete eine schmerzhafte Austeritätspolitik mit Lohnstopps und Preiskontrollen ein, kappte Subventionen und verringerte den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft. Im Lauf der achtziger Jahre gelang es, die Exporte deutlich zu steigern und das notorische Haushaltsdefizit besser zu beherrschen. Hohe ausländische Investitionen, die 1996 beschlossene Zollunion und die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union sorgten dafür, dass sich das Wachstum der Industrie verstetigte und die Produktpalette breiter wurde.
Heute exportiert die Türkei neben Textilien auch hochwertige technische Güter, von LCD-Fernsehern über Haushaltsgeräte bis zu Autoteilen und kompletten Bussen. Einige der weniger effizienten Staatsbetriebe sind seit der Jahrtausendwende privatisiert worden: Die Sümerbank etwa, Anteile am Stahlwerk in Ereğli und der Tüpraş-Konzern, der die türkischen Ölraffinerien kontrolliert. Die Nahrungsmittelindustrie trägt mit Getreide-, Obst- und Gemüseprodukten, Olivenöl und Tabak erheblich zum Außenhandel bei. Zwischen den modernen Agrarunternehmen und den Kleinbauern klafft noch immer eine gewaltige Lücke, doch das Land ist jetzt von Nahrungsmittelimporten unabhängig.