ZU DEN DUNKLEN SEITE DER INDUSTRIELLEN REVOLUTION: SKLAVEREI UND KOLONIALISMUS

Seit rund 75 Jahren streiten Historiker darüber, welche Rolle Sklaverei und Kolonialismus für die Industrialisierung gespielt haben. Das Schlüsselwerk dazu publizierte 1944 der Historiker Eric Williams, der bezeichnenderweise aus der Karibik stammte und in Oxford promovierte. Seine heftig umstrittene These, dass der Sklavenhandel und von Sklaven massenhaft produzierte Kolonialwaren wie Zucker, Kaffee und Tabak das Kapital für die neuen Kohlezechen und Textilfabriken erbracht hätten, hat im Zuge der Debatten über den Postkolonialismus neue Wertschätzung gefunden. Zumindest für den Beginn der Industriellen Revolution in England sind inzwischen konkrete Zusammenhänge nachgewiesen worden: Englische Händler verschleppten im 18. Jahrhundert etwa 2,5 Millionen Menschen aus Afrika in die Plantagen der Karibik und Nordamerikas – mehr als jede andere Nation. Erlöse daraus flossen in die expandierenden Industriereviere in Nordengland und Wales. Bei der Industrialisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert wiederum trugen Gewinne aus dem Handel mit Kolonialzucker zum Aufbau des Eisenbahnnetzes und der Motorisierung der Fabrikproduktion bei – noch bevor sich das Land selbst Kolonien aneignete. Doch ob solche Investitionen entscheidend für die Entstehung der kapitalistischen Fabrikökonomie waren, ist noch nicht geklärt.

Auch Kolonialmächte wie Frankreich und Portugal verschifften Millionen Afrikaner über den Atlantik und den Indischen Ozean in die höchst einträglichen Zuckerrohrplantagen ihrer Kolonien, aber die Industrialisierung begann dort erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts oder später. Ein direkter Zusammenhang lässt sich daher schwer ausmachen, doch auch dort brachte der immense Zustrom von Kapital aus der Sklavenökonomie im 18. Jahrhundert die Wirtschaft in Schwung. Eine Schätzung zum Ausmaß haben zwei Wirtschaftshistoriker für die Niederlande publiziert: Demnach trug das Geschäft mit Kolonialwaren aus Amerika um 1770 etwa 20% zum gesamten niederländischen Außenhandel bei.

Am Import von Kolonialwaren verdienten nicht nur Handel und Schiffbau in den großen Seehäfen, sondern auch Banken und Versicherungsgesellschaften sowie Gewerbe im Binnenland, die Importgüter verarbeiteten: Zuckerraffinerien, Tabakfabriken und Kaffeehäuser boomten praktisch in ganz Europa, Konditoren aus der Schweiz galten als Meister in der Verarbeitung von Kakao und Gewürzen aus Übersee.

Auch die Ausfuhr war für europäische Länder recht einträglich: Eine deutsche Historikerin kalkuliert, dass Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts mindestens 15% seiner Außenhandelsgewinne mit dem Export von Leinen für den Sklavenhandel erzielte. In den Kolonien der Karibik wurde der strapazierfähige Stoff für die Kleidung von Sklaven verwendet, an der Westküste Afrikas tauschten Händler weißes Leinen aus Schlesien gegen Sklaven.

Eine andere, gefragte Tauschware waren Produkte aus Messing, die man in Afrika nicht herstellen konnte, weil dort der Rohstoff Zink nicht vorkommt. Schon ab dem 16. Jahrhundert ließen portugiesische Händler daher Millionen Messingarmringe im deutschen Rheinland herstellen, um damit die Sklaven zu bezahlen, die ihnen die Könige von Benin lieferten. Zudem hatten Sklavenschiffe auch Exportgüter wie Gewehre, Tabakpfeifen und nicht zuletzt „Indiennes“ an Bord, farbig bedruckte Baumwollstoffe, die ebenfalls aus dem tiefsten Binnenland kamen: der Schweiz. Den risikoreichen, aber lukrativen Dreieckshandel zwischen Afrika, den Kolonien und Europa kann man als eine frühe Form von Globalisierung ansehen, die weite Teile der europäischen Wirtschaft erfasste und Kapital für die spätere Industrialisierung kreierte.

Zum nächsten Schub des Kolonialismus im späteren 19. Jahrhundert trugen die Industrien dann entscheidend bei. Nun entstand auch in später industrialisierten Nationen wie Frankreich oder den Niederlanden ein gewaltiger Bedarf: Die Kolonien wurden gebraucht als Rohstofflieferanten für die Produktion und als Märkte für die Produkte. Großbritannien, führend als Industrienation wie als Kolonialmacht, liefert das Musterbeispiel: Man importierte Rohbaumwolle aus der indischen Kolonie, überflutete den dortigen Markt dann mit maschinell gewebten Stoffen und ruinierte damit die Jahrhunderte-alte indische Textilwirtschaft. Anstelle der Konsumgüter Zucker und Kaffee importierten europäische Unternehmer jetzt gewaltige Mengen Baumwolle, großenteils von den schnell expandierenden Sklavenplantagen in den Südstaaten der USA. Daneben kamen aus den Kolonien vor allem Erze sowie Agrarprodukte für die Versorgung der neuen Industriestädte. Gegen Ende des Jahrhunderts diversifizierte sich der Bedarf, als in der „Zweiten Industriellen Revolution“ die Branchen Elektrotechnik, Chemie und Maschinenbau expandierten: Kupfer beispielsweise kam aus Belgisch-Kongo, Rohöl aus dem niederländischen Java, Kautschuk für die Gummiherstellung aus Französisch-Indochina. Hinter dem imperialistischen Säbelrasseln der mächtigen Industrienationen, die zunehmend aggressiv um Kolonien rivalisierten, standen die Bedürfnisse der dominierenden Industrien.

Die Industrialisierung veränderte auch die ideologische Seite des Kolonialismus: 1807 verbot England den Sklavenhandel, 1833 auch weitgehend die Sklaverei - nicht als erste, aber als die Nation, die diese Entscheidung dank ihrer überlegenen Marine weltweit halbwegs durchsetzen konnte. Großen Einfluss auf das Verbot hatte eine moralisch begründete, überwiegend von Evangelikalen getragene öffentliche Bewegung in Großbritannien. Doch die Sklaverei passte auch ökonomisch nicht mehr in die Zeit: Der Kapitalismus verlangte ein anderes Bild der Arbeitswelt, basierend auf den Ideen der Selbstverantwortung und der Marktwirtschaft. Das bedeutete anstelle der Sklavenökonomie das Konzept des „freien Arbeiters“ und anstelle von Zollmonopolen und Handelsbeschränkungen den freien Handel. Der Historiker Eric Williams meinte daher, dass sich britische Fabrikherren und Handelsunternehmer mit den Philanthropen zusammengetan hätten, um das Ende der Sklaverei und zugleich den Freihandel durchzusetzen. Wissenschaftler streiten noch, wie korrekt er die komplexen historischen Abläufe in England beschrieben hat. Doch die Logik der neuen Epoche brachte er auf den Punkt: Man musste die Sklaverei verbieten, um die Stellung der Industriearbeiter aufzuwerten. Auch wenn sie täglich 12 Stunden arbeiten mussten, erbärmliche Löhne erhielten und in feuchten Massenquartieren hausten – sie waren keine Sklaven, sie waren „frei“. Das war die ideologische Legitimierung, die die industrialisierte Massengesellschaft brauchte.