ZUR ENTWICKLUNG VON INDUSTRIELLEN LANDSCHAFTEN
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem zweiten Schub der Industrialisierung, begannen kahle Abraumhalden und rußbedeckte Werkshallen, endlose Reihen grauer Arbeiterhäuser und stählerne Schienenstränge zu großflächigen Industrie-Landschaften zusammenzuwachsen. Aber schon lange vorher hatten Menschen neue Landschaften gestaltet - nicht nur da, wo wertvolle Bodenschätze dazu verlockten.
In den Niederlanden fing man Ende des 17. Jahrhunderts an, dem Meer Land abzuringen: Zum Schutz bei Sturmfluten und um das Ackerland zu vergrößern. Zu den frühesten Beispielen gehört der Polder um den kleinen Ort Beemster in Nord-Holland, nicht weit von Amsterdam. Dort hatte sich ein Binnensee, durch Zuflüsse aus der Zuidersee gespeist, so bedrohlich augebreitet, dass eine Reihe Investoren zusammenkam, vor allem Amsterdamer Kaufleute, den See eindeichen und das Wasser nach und nach abpumpen ließ. Als die Fläche 1612 trockengelegt war, teilten sie den fruchtbaren Boden auf, legten schnurgerade Kanäle und Alleen an, gründeten an geeigneten Punkten Siedlungen und schufen nach einem wohldurchdachten Konzept eine neue Polderlandschaft.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand der Tourismus in Europa: Wer es sich leisten konnte, reiste nach Italien, nach England - und manchmal auch ins Wörlitzer Gartenreich in Ostdeutschland. Dort hatte Leopold Friedrich Franz, Fürst von Anhalt-Dessau, einen Mikrokosmos nach den Idealen der Aufklärung geschaffen. Inspiriert von den englischen Gärten, ließ er eine neue Gartenlandschaft gestalten, frei von den traditionellen Regeln aus dem Barock: mit malerischen, natürlich wachsenden Gehölzen und geschwungenen Wegen statt beschnittener Bäume und geometrisch geordneter Rabatten. Die ästhetische Gestaltung hatte zugleich einen erzieherischen Sinn, denn sie sollte die Empfindungskraft der Spaziergänger anregen.
Das Wörlitzer Gesamtkunstwerk verband das Schöne mit dem Nützlichen, denn die Aufklärer hofften, die Welt nach den Vorgaben der Vernunft zu einem besseren Ort machen zu können. Fürst Franz reformierte die Landwirtschaft nach neuesten Erkenntnissen der aufblühenden Naturwissenschaften und richtete Schulen für die Bevölkerung ein. Bevor sich der Konflikt zwischen Bauern, Bürgern und Adel 1789 in der Französischen Revolution entlud, suchte er mit seinem aufgeklärten Absolutismus einen „Dritten Weg“. Das lässt sich bis heute an der Gartenlandschaft um Wörlitz ablesen.
Frühe, quasi-industrielle Wirtschaftstätigkeiten drückten der Landschaft ebenfalls ihren Stempel auf. Vor allem der nicht zu stillende Bedarf an Holz – unersetzlich als Baumaterial und Brennstoff - führte seit der Antike zur Entwaldung und nachfolgenden Verkarstung ganzer Regionen. Im 19. Jahrhundert steigerte sich der Raubbau drastisch. In Blaenavon in Süd-Wales zum Beispiel, einer der Geburtsstätten der Industriellen Revolution, wurde 1789 ein Eisenwerk mit drei Hochöfen aus dem Boden gestampft und dann setzte in der verlassenen Gegend eine dramatische Betriebsamkeit ein. In die Berge wurden Schächte und Stollen für den Abbau von Kohle und Eisenerz getrieben, in Steinbrüchen gewann man Kalkstein, Zuschlagsstoff für die Eisen-Verhüttung. Künstliche Teiche entstanden als Speicher für Grubenwasser oder als Wasserreservoir für die Dampfmaschinen. Über Hänge und durch Täler zog man Trassen für Grubenbahnen, in den Berg sprengte man Tunnel. Noch heute sind weithin die Mundlöcher der Bergwerke und die Abraumhalden zu sehen, Ruinen der Betriebsgebäude und offene Tagebaue – Spuren von Generationen von Arbeitern, die das Land prägten.
Wie die Schwerindustrie das Unterste zuoberst kehrte, illustrieren Berichte von Zeitgenossen aus dem Tal der Rhondda, ebenfalls in Süd-Wales. Noch nach 1850 rühmen Reisende „die Perle von Glamorganshire“ mit ihren waldbedeckten Klippen, „das Smaragd-Grün der Wiesen“, „den aromatischen Duft nach Wildblumen und Bergpflanzen“ und die sonntägliche Stille. Dann kommt der Kohleabbau: Aus der Rhondda wird „ein dunkler, vergifteter Rinnstein, gewaltige Abraumhalden bedecken die zerschundenen, kahlen Hügel, Tag und Nacht, jahraus, jahrein dröhnt der Lärm der Dampfmaschinen, das Sirren der Maschinen und das Hämmern der Schmieden.“ Über 400 Zechen förderten schließlich Kohle an der Rhondda und ihren Nebenflüssen, die Arbeitersiedlungen wuchsen zu einer durchgehenden Häuserreihe zusammen und über den geschwärzten Tälern hing immer eine Rauchwolke.
Das größte Industriegebiet des Kontinents entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Westen Deutschlands. Die Industrialisierung an Ruhr und Emscher nahm langsam Fahrt auf, nachdem 1834 der Deutsche Zollverein gegründet und 1847 mit der Köln-Mindener Eisenbahn die erste moderne Verkehrsverbindung hergestellt worden war. Bis dahin lebten in der Emscher noch Fische und Krebse, an den schilf-bestandenen Ufern drehten sich die Räder einiger Wassermühlen. Rundum erstreckte sich dünnbesiedeltes Bauernland, in unwegsamen Heiden grasten Wildpferde. Mehr Menschen lebten an der Ruhr, in der fruchtbaren Zone am „Hellweg“, der traditionsreichen Handelsverbindung mit alten Städten wie Duisburg, Essen und Dortmund.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen die Städte zu expandieren, Orte wie Oberhausen und Gelsenkirchen entstanden praktisch aus dem Nichts, im Ackerland wurden Schornsteine und Fördertürme gebaut. Aber die Landwirtschaft gewann noch an Bedeutung, weil die Nachfrage mit den zuziehenden Arbeitskräften wuchs und die Äcker dank neuer Dünger höhere Erträge abwarfen. Erst ab den 1890er Jahren schnellte der Flächenverbrauch der Schwerindustrie in die Höhe, das Eisenbahnnetz wuchs und die Einwohnerzahlen explodierten. Die begradigten und einbetonierten Flüsse, allen voran die Emscher, wurden offiziell dazu bestimmt, Werksabwässer in den Rhein abzuleiten. Bald nach der Jahrhundertwende sahen Fabrikanten und Politiker das Emschergebiet als eine „große, am Rhein liegende Stadt“ an.
Im 20. Jahrhundert expandierte in Deutschland der Braunkohlen-Tagebau, ebenfalls eine Industrie mit hohem Landschaftsverbrauch. Im ostdeutschen Revier zwischen Leipzig und Cottbus ließ der Energiekonzern AEG während des Ersten Weltkriegs beispielsweise das Braunkohlekraftwerk Zschornewitz errichten, ein frühes Beispiel für einen gigantischen funktionalen Industriebau. Schon damals wurden Dörfer aufgegeben, wo sich der Abbau ins Land hineinfraß. Das Prinzip ist immer noch dasselbe: Das Loch, wo riesige Bagger die Kohle aus dem Boden kratzen, wandert langsam weiter, denn auf der Seite, wo neues Gelände angeschnitten wird, trägt man die Erdschicht über der Kohle ab und auf der anderen Seite kippt man sie in das ausgekohlte Gelände wieder hinein. Da am Ende das Volumen der Kohle fehlt, bleiben nach dem Abbau Restlöcher übrig, die sich allmählich mit dem abgepumpten Grundwasser füllen. In Ostdeutschland versucht man sie seit Ende der Braunkohle-Gewinnung als Erholungsgebiete zu nutzen. Im westdeutschen Braunkohle-Revier zwischen Köln und Aachen, wo seit den 1950er Jahren im großen Stil abgebaut wird, werden die ausgekohlten Tagebaue aufwendig rekultiviert, doch die umgesiedelten Dörfer, die neuen Feuchtbiotope und künstlichen Hügel bleiben als frisch geschaffene, künstliche Landschaft erkennbar – und hinter den jungen Birkenwäldchen geht der Flächenverbrauch weiter.