ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE VON LETTLAND

Die Industrialisierung Lettlands verlief ähnlich wie in Estland: Beide Länder gehörten im 19. Jahrhundert zum Reich der russischen Zaren, beiden fehlen klassische Rohstoffe wie Kohle und Eisenerz.  Als in den lettischen Regionen Livland und Kurland zu Anfang des Jahrhunderts die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben wurde, standen aber Arbeitskräfte zur Verfügung und in den Städten entwickelten sich erste Fabriken. Vor allem in Riga florierten Unternehmen der Textilindustrie, der Holz-, Metall- und Tabakverarbeitung. Der Eisenbahnbau löste einen weiteren Schub aus: Ab 1860 hielten Züge der Verbindung zwischen St. Petersburg und Warschau in Daugavpils, 1861 wurde Riga an die Strecke angebunden. In den Folgejahren entstanden dort die Russisch-Baltische Waggonfabrik und die Maschinenfabrik im Vorort Bolderai. Mit dem Anschluss an die Bahnstrecken in die Kornkammern Südrusslands und der Ukraine führte der Getreide-Umschlag zu einem mächtigen Aufschwung des Rigaer Hafens.

Auch in den Küstenstädten Ventspils – wo die Schiffbautradition bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht – und Liepaja expandierten die Werften. 1899 entstand in der Fahrradfabrik Leutner & Co. das erste lettische Auto, 1908 nahm der Waggonbauer Russo-Balt auch die Kfz-Produktion auf. Ein rasanter Verstädterungsprozess setzte ein: In Riga stieg die Einwohnerzahl zwischen 1871 und 1913 um das Fünffache. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war die Industrialisierung in den „Ostseeprovinzen“ Livland, Kurland und Estland weiter fortgeschritten als irgendwo sonst im Imperium des Zaren. Wichtigster Wirtschaftssektor blieb jedoch die Landwirtschaft – und Lettland und Estland erreichten auch darin die höchste Produktivität des Reiches.  

Der Krieg hinterließ schwere Verwüstungen, obendrein demontierten die abziehenden Russen einen Großteil der Fabriken, als Lettland 1918 unabhängig wurde. Es gelang der Regierung jedoch, neue Industrien auf Basis einheimischer Rohstoffe wie Holz und Flachs aufzubauen. Dank einer Landreform stieg die Produktivität der Agrarwirtschaft. Nach dänischem Vorbild  spezialisierten sich die Landwirte erfolgreich auf den Export veredelter tierischer Produkte wie Butter und Speck – auch mithilfe bäuerlicher Kooperativen wie in Skandinavien. Das bedeutendste unter den neu gegündeten, technologisch fortgeschrittenen Unternehmen war die Staatliche Elektrotechnische Fabrik VEF, die vor allem Radios und Telefone herstellte und die legendäre Minox-Kleinkamera einführte. 1937 begann die Firma Vairogs, mit Lizenz von Ford Personen- und Lastwagen zu bauen.

Der Zweite Weltkrieg mit deutscher und russischer Besetzung bedeutete erneut einen bitteren Rückschlag. Ab 1945 lancierten die Sowjets sofort ein groß angelegtes Wiederaufbau- und Industrialisierungsprogramm, denn Lettland verfügte über gut ausgebildete Arbeitskräfte und eine immer noch relativ intakte Infrastruktur. Weil natürliche Rohstoffe fehlten, favorisierte Moskau arbeitsintensive Industrien – durch die massive Ansiedlung russischer Arbeitskräfte wollte man zugleich das Baltikum enger an die UdSSR anbinden. Vor allem in Riga wurden Werke des Maschinenbaus und der Metallverarbeitung aufgebaut: 1947 begann die Firma RER mit Herstellung von Elektroantrieben für Lokomotiven und Straßenbahnen, die Rigaer Dieselmotorenfabrik nahm den Betrieb auf und das Unternehmen RAF wurde rasch für seine Kleinbusse bekannt. Auch Holzverarbeitung, Textilproduktionund Papiererzeugung expandierten.

In den sechziger Jahren deckten die baltischen Republiken dann einen bedeutenden Anteil des sowjetischen Bedarfs an technischen Produkten, von Motorrädern über Waschmaschinen bis zu Telefonvermittlungsanlagen. Mit dem traditionsreichen Hersteller VEF entwickelte sich Riga zu einem bedeutenden Standorte der Elektronik-Industrie – nicht zuletzt wegen der großen Nachfrage der Armee. Lettland zählte nun zu den am stärksten industrialisierten und auch wohlhabendsten Republiken der Sowjetunion, doch der Lebensstandard verbesserte sich nur langsam, weil der einseitige Ausbau der Industrie mit einem eklatanten Mangel an vielen Konsumgütern verbunden war und auch den Aufbau von Service-Betrieben vernachlässigte.
 

Lettland war eine Unionsrepublik der im Jahr 1991 aufgelösten 'Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR)'.
Lesen Sie daher zur Abrundung auch unsere Beiträge zur Industriegeschichte der anderen ehemaligen UdSSR-Republiken


Armenien
Aserbaidschan
Belarus
Estland
Georgien
Kasachstan
Litauen
Moldau
Russland
Ukraine