ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE VON ANDORRA
Das Fürstentum Andorra hat eine außergewöhnliche wirtschaftliche Entwicklung genommen. Aufgrund der abgeschlossenen Lage im Bergmassiv der Pyrenäen, abseits der Handelsrouten, mit minimalen Flächen für den Ackerbau, blieb es für Jahrhunderte ein unbekanntes, armes Land mit feudaler Gesellschaftsstruktur – doch heute zählt es zu den wohlhabendsten Europas.
Andorra wurde 1278 als eigener Staat anerkannt, allerdings unter der Führung zweier auswärtiger „Co-Fürsten“: des Bischofs aus La Seu d’Urgell – der katalanischen Stadt südlich der Grenzen – und des Grafen von Foix nördlich des Gebirges, dessen Rechte im 16. Jahrhundert den französischen Königen zufielen. Bereits 1532 erhielt Andorra das Privileg der Zollfreiheit.
Die wirtschaftlichen Aktivitäten beschränkten sich bis weit in die Neuzeit überwiegend auf Schafzucht und Forstwirtschaft. Ab dem 17. Jahrhundert kam einige Schmieden dazu, in denen das lokal abgebaute Eisenerz verhüttet wurde. Die mit Holzkohle befeuerten „katalanischen Rennfeueröfen“ galten lange als besonders effektiv und wurden noch im 19. Jahrhundert betrieben, als die industrialisierten Nachbarländer längst in gewaltigen Hochöfen Stahl erschmolzen.
Bestimmt wurde die Wirtschaft von einer Handvoll aristokratischer Familien, die sich ihren Einfluss zum Teil bis heute bewahrt haben. Das Haus Rossell besaß schon 1619 die größten Schmieden, einer seiner Stammväter ist der Jurist Antoni Fiter i Rossell, der auch als erster Literat des Landes gilt. Die in den 1840er Jahren eröffnete und 1876 – als die andorranische Eisenproduktion zuende ging – aufgegebene „Rossell-Schmiede“dient heute als Museum.
Ebenfalls seit dem 17. Jahrhundert war die Familie Areny im Eisen-Geschäft aktiv, deren Gutshof im Ort Ordino jetzt als Beispiel eines aristokratischen Herrenhauses besichtigt werden kann. Im 19. Jahrhundert betätigte sich der Unternehmer Guillem d‘Areny-Plandolit auch in Handel und Bankwesen. Er spielte zudem eine wichtige Rolle in den Reformen, die 1866 der nicht-adeligen Bevölkerung erstmals einen bescheidenen politischen Einfluss sicherten. Sein Sohn Pau Xavier gründete 1903 in Ordino das erste, allerdings kurzlebige Museum Andorras.
Nicht zuletzt aufgrund des einträglichen Zigaretten-Schmuggels nach Spanien entwickelte sich seit Ende des 17. Jahrhunderts auch der Tabakanbau zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. Daran erinnert das Museum in der von der Familie Reig gegründeten Tabakfabrik, die von 1903 bis 1957 in Betrieb war. Bezeichnend für die Struktur der andorranischen Wirtschaft ist, dass Julià Reig i Ribó, ein Sohn des Firmengründers, in den 1950er Jahren auch eine Bank und ein Immobilienunternehmen eröffnete. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts stellte die Familie mehrmals den Regierungschef.
Eine zögerliche Öffnung des Landes setzte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, als die ersten Straßen nach Spanien und dann nach Frankreich gebaut wurden. Eisenbahnstrecken gibt es in dem kleinen Staat bis heute nicht. Die Initialzündung für die ökonomische Belebung war schließlich die Errichtung des Wasserkraftwerks am Engolasters-See, das 1934 eröffnet wurde, bis heute einen Großteil des Stroms liefert und zugleich als Museum dient. Für den Bau mussten Arbeitskräfte in Spanien angeworben werden, Straßen wurden gebaut, Banken und Kaufhäuser gegründet.
Ab den 1950er Jahren gewann die Entwicklung immer mehr an Dynamik. Weitere Geldhäuser öffneten ihre Türen und 1957 entstand mit der Einrichtung des ersten Ski-Lifts ein boomender, neuer Wirtschaftszweig: der Tourismus. Begünstigt durch weitgehende Zollfreiheit und niedrige Steuern, bilden der Einzelhandel, das Immobiliengeschäft und das lange der Geldwäsche verdächtigte Bankwesen die drei anderen Säulen einer der reichsten Volkswirtschaften Europas. So schaffte Andorra, das erst 1993 vom Feudalstaat in ein parlamentarisches System umgewandelt wurde, den Sprung vom bitterarmen Agrarland zur florierenden Dienstleistungsgesellschaft ohne den Zwischenschritt der Industrialisierung.