ZU DEN DUNKLEN SEITE DER INDUSTRIELLEN REVOLUTION: ARBEITERELEND UND ARBEITERBEWEGUNG
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert erlebte Großbritannien ein starkes Bevölkerungswachstum - eine der Voraussetzungen für die Industrielle Revolution, standen jetzt doch die nötigen Arbeitskräfte zur Verfügung. Doch viel zu viele Menschen suchten in den aufstrebenden Industriestädten Beschäftigung, denn die Mechanisierung machte gleichzeitig Millionen Handwerker arbeitslos, zudem suchten viele Bauern eine neue Beschäftigung, weil ihre Höfe in der Befreiung von den grundherrschaftlichen Frondiensten unrentabel geworden waren. In Manchester, der ersten Industriestadt überhaupt, versechsfachte sich zwischen 1711 und 1831 die Einwohnerzahl. In London stieg sie von 1800 bis 1850 um rund 130%, in Paris – wo die Industrialisierung später begann – verdoppelte sie sich.
Nirgendwo war man auf den Ansturm vorbereitet und in den Industriestädten wuchsen die Slums, da es weder genug Wohnraum, noch Kanalisation oder Trinkwasser-Versorgung gab. Obendrein erhielten die, die Arbeit fanden, einen Hungerlohn, der nur für die billigsten Unterkünfte reichte. Zu fünft schliefen die Menschen dort in einem Bett - und vermieteten es, während sie arbeiteten, an Fremde. Andere hausten in feuchten Kellern, dunklen Gassen oder Erdlöchern.
Berüchtigtes Beispiel für das Wohnungselend sind „Back-to-Backs“, wie sie etwa im mittelenglischen Birmingham entstanden: Lange Zeilen kleiner Häuser, Rücken an Rücken gebaut, so dass nur die Frontseite Fenster hatte, mit winzigen Hinterhöfen, in denen der Abtritt stand und oft noch Schweine lebten. Schlimmer noch stand es in den Mietskasernen: Zum Musterfall wurde Berlin, wo Spekulanten mehrstöckige Häuserblocks mit bis zu sechs Hinterhöfen aus dem Boden stampften, in die weitere mehrstöckige Häuserblöcke gezwängt waren. Mehrere tausend Menschen lebten in diesen Wohnanlagen.
Die Hygiene in den Arbeitervierteln war katastrophal. Da Abwasserkanäle fehlten, sammelte sich der Unrat auf den Straßen, einschließlich menschlicher Exkremente. Während Hausbesitzer Vermögen einstrichen, stieg die Kindersterblichkeit, Ausbrüche von Cholera, Typhus und Tuberkulose forderten Opfer und die Lebenserwartung sank: In der Hafenstadt Liverpool lag sie um 1840 bei 17 Jahren – 10 Jahre unter dem englischen Landesdurchschnitt. Nicht allein Friedrich Engels in seiner berühmten Schrift über die Baumwoll-Metropole Manchester, viele Beobachter in Westeuropa debattierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die „Soziale Frage“, doch die Regierungen weigerten sich, tätig zu werden.
Da so viele Arbeit suchten, konnten sich die Fabrikanten erlauben, Hungerlöhne zu zahlen. Die Arbeitszeit lag zwischen 12 und 16 Stunden an 6 Wochentagen. Übertretungen der strikten Zeit- und Arbeitsdisziplin führten umgehend zu Lohnabzügen, wenn nicht zur Entlassung. Einem Facharbeiter, der vielleicht einen mechanischen Webstuhl bediente, mochte der Lohn zum Leben reichen, doch meist musste die ganze Familie arbeiten: Frauen für den halben Lohn, Kinder für noch weniger. Kinder waren vor allem wegen ihrer Größe und Beweglichkeit gefragt: In Bergwerken ließ man sie auf allen Vieren kohlegefüllte Loren durch niedrigste Stollen ziehen, in Spinnereien mussten sie unter den Maschinen Baumwoll-Reste einsammeln.
Die Arbeitskräfte waren Krach, Schmutz und Schadstoffen weitgehend schutzlos ausgesetzt: Winzigen Baumwollflocken in der Atemluft der Spinnereien, Mineralstäuben im Bergbau, giftigen Chemikalien in Eisenhütten und Chemiewerken. Arbeitsunfälle waren an der Tagesordnung. Viele Männer waren mit 40 Jahren nicht mehr arbeitsfähig – und wer arbeitslos wurde, zu krank oder zu alt war, landete auf der Straße. Zudem waren Massenentlassungen in den periodisch wiederkehrenden Krisen Normalität.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann allmählich der organisierte Widerstand der Arbeiterschaft: In Großbritannien vereinigten sich Facharbeiter zu Gewerkschaften, die noch in der Tradition der Zünfte standen, aber auch zu Arbeitskämpfen aufriefen. In Glasgow streikten in den 1810er Jahren die Handweber, in Manchester die Spinnereiarbeiter, in Northumberland die Bergleute. 1824 erreichten sie, dass das Koalitionsverbot, das Zusammenschlüsse untersagte, aufgehoben wurde. Gewerkschaftsarbeit wurde legal, nicht aber die Streiks, die oft zu blutigen Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften führten.
Die erste bedeutende Arbeitervereinigung waren die britischen „Chartisten“. Ihnen ging es nicht nur um bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch um politische Teilhabe: In der „People's Charta“ von 1838 forderten sie das Stimmrecht für alle Männer. Zum Symbol nach jahrzehntelangem Kampf wurde dann das britische Fabrikgesetz von 1847, das erstmals die Arbeitszeit auf 10 Stunden beschränkte – wenn auch vorerst nur für Frauen und Kinder, die Mehrheit der Belegschaft in den Baumwollspinnereien. Kinderarbeit wurde in den meisten europäischen Ländern nach und nach eingeschränkt - in Preußen 1839, weil das Militär darauf drängte, das um den Nachwuchs an tauglichen Rekruten fürchtete. Vollständig untersagt wurde die Beschäftigung von Kindern während des 19. Jahrhunderts jedoch nirgends.
In Großbritannien entstand auch der Vorläufer der Genossenschaften, des zweiten Standbeins der Arbeiterbewegung: 1844 gründeten Weber aus Manchester die „Rochdale Society“, die sich bei politischer Neutralität um praktische Selbsthilfe für Arbeiter kümmerte. Bald versorgten Genossenschaften, etwa die „Konsum-Vereine“, auch auf dem Kontinent ihre Mitglieder mit bezahlbaren Lebensmitteln, erbauten eigene Großbäckereien, gründeten Einkaufsgesellschaften und demonstrierten mit repräsentativen Neubauten ihre Stärke. Vielfach waren sie auch politisch aktiv.
1848 erschien Karl Marx‘ „Kommunistisches Manifest“, eine der wirkmächtigsten theoretischen Schriften der Arbeiterbewegung – die allerdings auf die Revolutionen dieses Jahres noch keinen Einfluss hatte. Auf dem Kontinent, vor allem in Frankreich und Deutschland, gingen 1848 Arbeiter und Handwerksgesellen gemeinsam auf die Barrikaden und forderten politische Freiheiten. In Frankreich setzten sie den 12-Stunden-Tag durch, doch letztlich ließen die Regierungen die Aufstände brutal zusammenschießen.
Ab Mitte des Jahrhunderts besserten sich die Bedingungen allmählich. In Industriestädten begann der systematische Bau von Sanitäranlagen, nachdem Cholera-Ausbrüche befürchten ließen, dass Seuchen sich schnell über die Arbeiterviertel hinaus verbreiten könnten. Gewerkschaften erkämpften höhere Löhne, obwohl sie in vielen Ländern noch lange überwacht wurden: In Großbritannien wurden sie erst 1882, in Frankreich 1884 vollständig legalisiert.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichte die Arbeiterbewegung schließlich nachhaltige Verbesserungen, weil die relativ homogene, massenhaft organisierte Arbeiterschaft in den Industriestädten das Druckmittel des Streiks immer zielstrebiger einzusetzen verstand – auch wenn gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften weiterhin alltäglich waren. Neben branchen-gebundenen bildeten sich nationale Gewerkschaften wie 1868 der britische „Trades Union Congress“. 1864 gründete ein Kongress in London unter Beteiligung von Karl Marx die erste „Internationale Arbeiter-Association“, die so genannte „Erste Internationale“.
In den Wahlrechtsreformen dieser Epoche erkannte das britische Parlament einem Großteil der Arbeiter das Stimmrecht zu. Der deutsche Reichskanzler Bismarck führte in den 1880er Jahren Invaliden-, Unfall- und Krankenversicherungen ein, allerdings ging sein Kalkül, die Arbeiterschaft dadurch politisch zu spalten, nicht auf. Nach und nach führten dann weitere Industrieländer Versicherungen für die Lohnabhängigen ein.
Neben die Gewerkschaften traten nun sozialistische Parteien, die sich nicht nur für demokratische Rechte, sondern für eine grundlegende Umgestaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems einsetzten, sei es durch Reformen, sei es revolutionär. Deutschland entwickelte sich durch einen hohen Organisationsgrad und einflussreiche Theoretiker zum Vorreiter: Schon in den 1860er Jahren waren dort die beiden ersten Arbeiterparteien entstanden, 1875 vereinigten sie sich zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“, aus der die SPD hervorging. In Belgien verbanden sich die sozialistischen Parteien Flanderns und Walloniens 1885 zur „Belgischen Arbeiterpartei“, die vielfach gespaltenen französischen Arbeiterparteien gründeten 1905 den Vorläufer der heutigen „Parti Socialiste“ und 1906 entstand die britische „Labour Party“. Mit zunehmenden Wahlerfolgen etablierten sie in den Parlamenten eine grundlegend neue politische Strömung.
