ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE DES VEREINIGTEN KÖNIGREICHS VON GROSSBRITANNIEN UND NORDIRLAND

Die Industrielle Revolution begann auf den Äckern der britischen Bauern. Dank neuer Anbaumethoden konnten sie im 18. Jahrhundert ihre Erträge so steigern, dass die Ernährung des Landes gesichert war und die adligen Grundbesitzer Kapital für Investitionen hatten. Hinzu kamen die Einkünfte aus dem schnell wachsenden Handel mit Sklaven und den von ihnen produzierten Waren aus den britischen Kolonien. Ein leistungsfähiger Kapitalmarkt existierte bereits: Ende des 17. Jahrhunderts waren in London die Börse und die Bank of England gegründet worden. Zudem ruhen in den Böden Großbritanniens umfangreiche, gut zugängliche Vorkommen der Schlüssel-Ressourcen Kohle und Eisenerz.

Auslöser der ersten bahnbrechenden Erfindungen war der durch die Jahrhunderte-lange Abholzung der Wälder ausgelöste Mangel an Holz, dem wichtigsten Brennstoff in Gewerben und Haushalten. Bahnbrechend waren dann drei technische Erfindungen. Wohl 1709 gelang es Abraham Darby, in seiner Eisenhütte in Coalbrookdale nahe Birmingham Steinkohle unter Luftabschluss von störenden Begleitelementen zu befreien. Mit dem so entstandenen Koks konnte man die Holzkohle ersetzen, den bewährten, aber längst sehr knappen Brennstoff für die Hochöfen.

Es brauchte jedoch eine zweite Innovation, bevor die gewaltigen Kohlevorkommen Mittelenglands ausgebeutet werden konnten: 1712 installierte der Eisenwarenhändler Thomas Newcomen in einem Bergwerk die erste Dampfmaschine, um Wasser aus den Schächten abzupumpen. Damit war auch Kohle in größere Tiefen erreichbar – zugleich war die Maschine entstanden, aus der ein universelles Antriebsaggregat werden sollte.

Mit der Mechanisierung der Baumwollverarbeitung, der dritten Schlüsselinnovation, wurde dann die Textilbranche zum Motor der Industrialisierung. Den Anfang machte John Kay, der 1733 ein „Fliegendes Weberschiffchen“ erfand, daß der Weber nicht mehr mit der Hand durch die Kettfäden zog, sondern mithilfe eines Seilzugs hindurchschoss. Das Weben wurde damit so beschleunigt, dass dringend Innovationen in der Spinnerei nötig waren, damit genug Garn verfügbar war. 1764 ging tatsächlich die erste Spinnmaschine in Betrieb: James Hargreaves‘ "Spinning Jenny", auf der sich 8 Garnspindeln drehten, angetrieben von einem Wasserrad. Schnell folgten die verbesserte „Waterframe“, gebaut von Richard Arkwright, der in Cromford bei Nottingham die erste Fabrikspinnerei eröffnete, und schließlich die „Mule“, die schon bis zu tausend Spindeln trug.

Ein Baumwoll-Boom brach aus, als es 1779 Newcomen und 1781 auch seinem Konkurrenten James Watt gelang, die Auf-und-Ab-Bewegung der Dampfmaschine in eine Rotation umzusetzen, so dass sie auf einer einzigen Spinnmaschine Zehntausende Spindeln in Bewegung setzen konnte. Vor allem im nordenglischen Lancashire schossen jetzt die Spinnereisäle und Staubtürme der „spinning mills“ aus dem Boden, mit Manchester als florierendem Handelszentrum.

Und das war nur ein Auftakt. Quasi über Nacht gingen Watts Dampfmaschinen in London in einer Brauerei und einer Getreidemühle, in einer Zuckerfabrik in Westindien und einem Sägewerk in den USA in Betrieb. Bald war „Boulton & Watt“ aus der Nähe von Birmingham Englands größte Maschinenbaufirma. Während Newcomens ursprüngliche Dampfmaschine noch lange zur Wasserhebung im Bergbau diente – ein Beispiel für den durchaus nicht immer rasanten Verlauf der Industrialisierung – eroberte Watts vervollkommnetes Modell auch die Eisenverarbeitung: Sie trieb die Gebläse der Hochöfen an, so dass höhere Schmelztemperaturen besseres Eisen erbrachten und setzte in den neu entstehenden Walzwerken die schweren Walzen in Bewegung, die glühende Eisenblöcke zu Blechen, Schienen und Profilen verformten.

Finanziert wurde die Industrielle Revolution in Großbritannien auch durch den Handel mit Sklaven und von Versklavten produzierten Kolonialwaren – der Umfang ist jedoch unklar. Großbritannien hatte seine Besitzungen in Übersee schon im 17. Jahrhundert ausgebaut, insbesondere auf den Karibikinseln Barbados und Jamaica waren profitable Zuckerrohrplantagen entstanden. Die südlicheren der nordamerikanischen Kolonien unterhielten Tabakplantagen, aus Indien kamen Baumwollstoffe. Im 18. Jahrhundert wuchs der Handel mit Sklaven aus Westafrika rasant an: Englische Schiffe transportierten mehr als 2,5 Millionen versklavte Menschen über den Atlantik auf die Plantagen – mehr als jede andere Nation. Neben London wurden nun auch die Hafenstädte Bristol und Liverpool reich. Für Liverpool lassen sich Investitionen von Erträgen des Sklavenhandels in die nahegelegenen nordenglischen Kohlezechen und Eisenhütten nachweisen, ebenso in den Eisenbahnbau und die walisische Schieferindustrie. Dazu kamen Gewinne mit Kolonialwaren wie Zucker, Kaffee und Tabak, die die Schiffe auf dem Rückweg aus Amerika mitbrachten. Neben Kaufleuten und Bankiers, Versicherungsgesellschaften und Schiffbau-Unternehmen verdienten daran auch Betreiber von Zuckerraffinerien und Tabakfabriken. 1807 verbot Großbritannien als eine der ersten Nationen den Sklavenhandel. Die Marine versuchte das Verbot weltweit durchzusetzen, um Nachteile für die britische Wirtschaft zu verringern.

Einen wichtigen Fortschritt in der Eisenverhüttung erreichte 1766 der Unternehmer Henry Cort: Seine Arbeiter mussten das Roheisen auf einem offenen Herd, dem „Puddel-Ofen“, beständig umrühren („to puddle“), so dass sich unerwünschte Spurenelemente und Schlacke entfernen ließen und schmiedbarer Stahl entstand. Jetzt boomten im Kohlerevier der „Midlands“ auch die Stahlhütten und Walzwerke, in Sheffield, dem traditonellen Zentrum der Messerfabrikation, wurden ebenfalls neue Stahlwerke eröffnet und in Schottland entwickelte sich das Carron-Eisenwerk zu einer führenden Waffenschmiede.

Dampfkraft und Stahl revolutionierten auch den Verkehr: Die ersten Dampfloks, 1803 von dem Bergbauingenieur Richard Trevithick entwickelt, rollten in den Kohlegruben von Coalbrookdale noch über gegossene Schienen. Mit stabileren gewalzten Schienen begann dann der Siegeszug der Eisenbahn: 1825 transportierte ein Zug erstmals Kohlen und Passagiere. Die Lok kam aus der Werkstatt von George Stephenson in Newcastle, der dann zwischen Manchester und dem Hafen von Liverpool die erste Fernstrecke baute: Die Hauptschlagader der Textilindustrie, über die stetig wachsende Mengen indischer Baumwolle ein- und Fertigwaren ausgeführt wurden. 1838 stand die Verbindung von Birmingham, dem Zentrum des nordenglischen Industriereviers, nach London und in der folgenden „Eisenbahnmanie“ waren bis zur Mitte des Jahrhunderts schon mehrere tausend Meilen Schienen verlegt.

Die Pioniere der dampfgetriebenen Schifffahrt kamen aus den USA, doch den ersten Dampfer mit eisernem Rumpf baute 1822 der Brite Aaron Manby. Die erste fahrplanmäßige Dampfer-Verbindung mit Nordamerika richtete Samuel Cunard 1840 in Liverpool ein, in Bristol lief kurz darauf das erste komplett aus Eisen gebaute Passagierschiff vom Stapel: die „Great Britain“, entworfen von Isambard Kingdom Brunel, einer der schillerndsten Persönlichkeiten der Epoche. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die volle Industrialisierung erreicht, als die billige Massenproduktion von Eisen- und Stahl anlief und in der Textilbranche die Mechanisierung abgeschlossen war.

Doch je schneller sich das Räderwerk der neuen Industrien drehte, desto größer wurde ihr Rohstoffhunger – und desto mehr Produkte ergossen sich auf den Markt. Großbritannien, der Vorreiter der Industrialisierung, war als erste Nation mit der neuen ökonomischen Logik konfrontiert, doch das nach Siegen über Frankreich nahezu unangefochten expandierende Empire konnte den veränderten Bedarf der Wirtschaft bestens befriedigen: In den Kolonien erwarben britische Unternehmen statt Zucker oder Kaffee nun Rohstoffe wie Zinn oder Kautschuk, im Gegenzug verkauften sie Massenware aus maschineller Produktion. Das beste Beispiel liefert einer der Schlüsselrohstoffe der Industriellen Revolution: die Baumwolle. Indien, jetzt Großbritanniens wertvollste Kolonie, hatte seit Jahrhunderten Baumwollstoffe exportiert, doch nun kauften Briten dort Rohbaumwolle, damit in Lancashire die Spindeln der Spinnmaschinen schwirrten und verkauften in Indien dann die Fertigware – was die dortige Textilproduktion ruinierte. Oder man machte ein Dreiecksgeschäft: Mit den Erträgen der Baumwollstoffe aus heimischer Fertigung kauften Briten in Indien Opium und bezahlten damit in China den Tee, nach dem die Heimat dürstete. Der chinesische Widerstand gegen den Drogenimport endete 1860 mit der Niederlage gegen Truppen der Kolonialmächte.