ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE DER NIEDERLANDE

Die Industrialisierung kam spät: Zum einen, weil die Niederlande nur über geringe Vorkommen der Schlüssel-Rohstoffe Kohle und Eisenerz verfügen, zum anderen, weil auf das „Goldene Zeitalter“ eine lange ökonomische Stagnation folgte: Im 18. Jahrhundert gingen wichtige Wirtschaftszweige wie der bisher europaweit führende Schiffbau, die Fischerei und das Brauereiwesen zurück. Die um Leiden, Delft und Haarlem etablierte Textilherstellung geriet gegen die britische Konkurrenz ebenfalls ins Hintertreffen, nur die hochspezialisierte Seidenweberei konnte sich halten.

Stützen der Ökonomie waren die hochproduktive Landwirtschaft, die Fleisch und Milchprodukte für den Export produzierte, und der traditionsreiche Handel - nicht zuletzt durch die Ausbeutung der niederländischen Kolonien in der Karibik, in Südamerika und Südostasien. Niederländer handelten mit afrikanischen Sklaven für die Plantagen in Amerika, profitierten aber noch mehr von den von Sklaven produzierten Waren, denn im 18. Jahrhundert explodierte in Europa die Nachfrage nach Kaffee, Tabak und vor allem Zucker. Amsterdam wurde zur Drehscheibe des weltweiten Kolonialhandels und Kaufleute, Bankiers und Schiffbauer, Betreiber von Zuckerraffinerien und Tabakfabriken verdienten daran. In Rotterdam entstand 1782 das Kolonialwarengeschäft Van Nelle, Vorläufer der bekannten Tabakfirma.

Um die die Wende zum 19. Jahrhundert gerieten die Niederlande unter französische Herrschaft, 1830 spaltete sich Belgien ab und schließlich stand das Land am Rand des Bankrotts. In dieser Krise trug die Kolonie im heutigen Indonesien erheblich zur wirtschaftlichen Erholung des „Mutterlandes“ bei. Mit dem 1830 auf Java eingeführten „Kultivationssystem“ erzwangen die Kolonialherren den Anbau der „cash crops“ Zuckerrohr, Kaffee und Indigo, die sich gut vermarkten ließen. Die indigene Bevölkerung dagegen litt Hunger, weil dadurch weniger Fläche für Reisfelder blieb. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann auf Java und Sumatra die systematische Ausbeutung der Rohstoffe: Private Investitionen flossen in Zinn-Bergwerke, Ölfelder und Kautschukplantagen. Nachdem 1870 das umstrittene „Kultivationssystem“ abgeschafft worden war, boomten auch die Zuckerrohrplantagen auf den Inseln. Java und Sumatra zählten bis ins 20. Jahrhundert hinein zu den einträglichsten Kolonien unter europäischer Herrschaft.

Welche Rolle diese Erträge spielten, als sich in den Niederlanden nach und nach die Technologien des Industriezeitalters durchsetzten, ist noch unklar. Jedenfalls trugen sie zum Aufbau des Eisenbahnnetzes bei, der 1839 mit der Strecke Amsterdam-Haarlem begann, wegen der zahlreichen, hinderlichen Wasserwege und der Vorliebe niederländischer Investoren, ihr Kapital im Ausland anzulegen, jedoch sehr stockend verlief.

Symbolträchtig, aber nicht sehr folgenreich war die Entscheidung König Willems I., das Haarlemer Meer, das sich bedrohlich ins Land hineinfraß, mit Dampfpumpen trockenlegen zu lassen statt mit den im Küstenschutz erprobten Windmühlen. Ab 1849 pumpten drei gigantische Dampfmaschinen das Wasser ab. Die größte ihrer Zeit, hergestellt von einer Eisengießerei aus Cornwall, arbeitete in der Pumpstation „De Cruquius“, heute ein Museum. Nach drei Jahren war aus Hollands größtem Binnensee eine Landfläch geworden, doch andere Infrastrukturprojekte trugen mehr Früchte.

Weil der Hafen Amsterdams durch die zunehmende Versandung des Ijsselmeers immer schlechter zu erreichen war, begann man 1865 mit dem Bau des Nordseekanals, einer direkten Verbindung zum Meer. Nun siedelten sich in der Stadt neue Firmen wie die Brauereien Heineken und Amstel an, Schiff- und Maschinenbau expandierten, Textilfabriken entstanden. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich, denn immer mehr Menschen zogen aus den Agrarregionen in die allmählich aufblühenden Industriestädte. Als 1889 der repräsentative Hauptbahnhof Amsterdam Centraal eröffnet wurde, hatte sich auch das Eisenbahnnetz über das ganze Land ausgedehnt.

Rotterdam profitierte ebenfalls vom Ausbau der Verkehrswege. Seit die Schwerindustrie im Ruhrgebiet boomte, hatte der Transithandel über den Rhein massiv zugenommen. Damit auch neue, immer größere Dampfschiffe, die die lukrative Transatlantikroute bedienten, den Hafen anlaufen konnten, wurde ab 1866 ein „Neuer Wasserweg“ zur Nordsee gegraben. Eine massive Expansion war die Folge. Dank einer neuen Brücke über die Maas rollten nun auch Züge in die südlichen Provinzen und am Südufer des Flusses entstanden weitere Hafenanlagen. Ab 1906 wurde schließlich der Waal-Hafen ausgehoben, der größte künstliche Hafen der Welt.

Um die Jahrhundertwende erreichte der Aufschwung seinen Höhepunkt. Die Niederlande profitierten von den typischen Branchen der „Zweiten Industrialisierung“ und eine Reihe weltbekannter Unternehmen entstand: Als Glühbirnenfabrik wurde 1891 in Eindhoven die Firma „Philips“ gegründet. Für die Chemie stehen die „Niederländische Kunstseidefabrik Enka“ und das Pharma-Unternehmen „Organon“, die später mit dem Farbenhersteller „Sikkens“ im „Akzo-Nobel“-Konzern aufgingen. Zwei Familienbetriebe aus dem Butter-Handel gründeten 1871 eine Margarine-Fabrik, die 1929/30 mit einem britischen Seifenfabrikanten zur Firma „Unilever“ fusionierte. Wieviel die Kolonien weiterhin zum Wohlstand beitrugen, bezeugt das Beispiel der „Royal Dutch“: 1890 als eine der zahlreichen Firmen gegründet, die im heutigen Indonesien nach Rohöl bohrten, fusionierte sie 1907 mit einem aufstrebenden britischen Konkurrenten, dem früheren Muschelhändler Samuel Marcus, zum künftigen Weltkonzern „Royal Dutch Shell“.

1896 begann in Limburg, der südlichsten Provinz, dank einer neuen Eisenbahn-Verbindung im großen Stil der Abbau der einzigen bedeutenden Kohle-Vorkommen des Landes. Im Lauf der nächsten dreißig Jahre errichteten dort 12 Bergwerke ihre Fördertürme und um die Städte Kerkrade und Heerlen entwickelte sich eine dicht besiedelte Industrieregion. Auch die Krisen der Zwischenkriegszeit konnten den Schwung des Aufbruchs nicht stoppen: 1919 wurde die Fluggesellschaft KLM gegründet. Auf Initiative einiger Industrieller, die die Abhängigkeit von Stahl-Importen zu verringern suchten, ging man 1920 an den Bau eines großen Stahl- und Walzwerks an der Mündung des Nordsee-Kanals. Doch die meisten Arbeitskräfte waren schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Dienstleistungssektor beschäftigt – vor allem im nach wie vor florierenden Handel. Damit waren die Niederlande besser für den nächsten Strukturwandel gewappnet als einst in ihrer frühen Glanzzeit.