Zeitschrift Industriekultur 1.23: Schwerpunkt Industrie und Wohnen

Arbeiter- und Firmensiedlungen sind ein prägendes Merkmal der europäischen Industriegeschichte, wie zahlreiche, nicht selten umfangreich sanierte Beispiele zeigen. Der Grund für die weite Verbreitung: Die Bindung erfahrener Beschäftigter gilt schon früh als wesentliches Fundament des ökonomischen Erfolgs. Neben preiswertem Wohnraum gehören dazu auch Investitionen in soziale Einrichtungen wie Vereinshäuser, Bildungsangebote, Kindergärten und medizinische Versorgung. Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Industriekultur widmet dem Aspekt „Industrie und Wohnen“ einen eigenen Schwerpunkt.

Eines der frühesten und zugleich prominentesten Beispiele einer Arbeitersiedlung ist New Lanark in Schottland, ein ERIH-Ankerpunkt und Unesco-Welterbe. Die ab 1800 errichtete Anlage geht auf Robert Owen (1771–1858) zurück, der hier im Kontext des Manchesterkapitalismus seine Vorstellung für menschenwürdigere Arbeitsbedingungen verwirklicht. 1968 schließen sich die Fabriktore. Dank einer umfangreichen Renovierung ist New Lanark heute jedoch wieder ein belebter Ort mit fast 200 Einwohnern und einem spannenden Industriemuseum.

Auch William Lever (1851-1925), bietet der Belegschaft seiner Seifenfabrik angemessene Wohnungen und soziale Sicherheit. Wer die mehr als 900 denkmalgeschützten und seit ihrem Bau um 1900 durchgehend bewohnten und genutzten Gebäude instand hält, verrät das Port Sunlight Museum. Etwa zeitgleich entsteht am Nordrand von York die Gartensiedlung von New Earswick. Ihr Auftraggeber, der Quäker und Schokoladenfabrikant Joseph Rowntree (1835-1925), lässt sich dabei von den Ideen des Briten Ebenezer Howard (1850–1928) leiten, der als der Erfinder der Gartenstadt gilt. Architektonische Elemente wie die Ausnutzung des Sonnenlichts und die „verkehrsberuhigte“ Lage der Häuser an Sackgassen sind richtungweisend für die Zeit.

Die europäische Dimension der Arbeitersiedlung versinnbildlichen unter anderem die beiden Standorte East Tilbury in England und Zlin in tschechien, in denen der tschechische Schuhfabrikant Tomáš Bat’a (1876-1932) seit der Wende zum 20. Jahrhundert Fabrikgründungen als geplante Stadt begreift und umsetzt. Auch im französischsprachigen Raum gibt es herausragende Beispiele für europäische Werkssiedlungen, darunter die Cité Ouvrière in Mulhouse, Elsaß, und der belgische ERIH-Ankerpunkt Welterbe Grand Hornu. In Italien ist das MuCa – Museum der Schiffbauindustrie, ebenfalls ein ERIH-Ankerpunkt, einen Besuch wert, sowie das polnische Nikiszowiec, ein Vorort von Kattowitz und zugleich eine der bemerkenswertesten Arbeitersiedlungen in Europa. Nicht zu vergessen das Ruhrgebiet mit der ersten Arbeiterkolonie Eisenheim in Oberhausen, der Margarethenhöhe in Essen und vielen weiteren Beispielen.

ERIH-Artikel in Industriekultur "Väterliche Fürsorge und kühles Kalkül. Industrie und Wohnen. Arbeiter- und Firmensiedlungen in Europa"