ZUR INDUSTRIEGESCHICHTE VON FRANKREICH

Die Industrialisierung Frankreichs begann spät und verlief so zögerlich, dass man nicht von einer „Industriellen Revolution“ sprechen kann. In den Böden der „Grande Nation“ ruhen eben nicht so große, gut zugängliche Vorräte an Steinkohle und Eisenerz wie in Großbritannien oder Belgien. Die Schlüsselressourcen finden sich überwiegend in Randgebieten wie Lothringen und dem Norden des Landes. Zudem standen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung, weil die Bevölkerung nicht so rasant wuchs wie in Großbritannien und weil das Ackerland in der Französischen Revolution den Bauern übereignet wurde: So gab es kaum besitzlose Landarbeiter. Zugleich entfiel mit der Abschaffung des Großgrundbesitzes eine Quelle für Investitionskapital.

Auch das Kolonialreich trug Frankreich weniger Profit ein als seinem britischen Rivalen, obwohl  es im 18. Jahrhundert noch große Gebiete in Amerika, Asien und der Karibik umfasste. In dieser Epoche verschifften Franzosen mehr als eine Million Sklaven aus Afrika über den Atlantik, die dritthöchste Menge nach Briten und Portugiesen. Auch auf die Plantagen der Inseln Mauritius und La Réunion im Indischen Ozean wurden Sklaven verschleppt. Die weitaus meisten aber brachte man auf die Zuckerrohrplantagen der Karibikinsel Saint-Domingue (heute Haiti), weil die explodierende Zucker-Nachfrage in Europa für hohe Profite sorgte. In französischen Häfen wie Le Havre, Nantes, Bordeaux und La Rochelle profitierten Kaufleute, Schiffbauer und Finanziers, Betreiber von Zuckerraffinerien und Weiterverkäufer am Menschenhandel – und an den Waren, die in Afrika gegen Sklaven getauscht wurden, verdienten Handwerker und Manufakturen in ganz Frankreich oder seinen Nachbarländern. Das Geschäft endete, als das Land in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast alle Kolonien an die Briten verlor.

Das Gewerbe war in Frankreich lange von kleinen Handwerksbetrieben geprägt, die für Adel und Bürgertum hochwertige Waren wie Möbel, Porzellan oder Uhren produzierten. In einzelnen Regionen blühten im 18. Jahrhundert aber Schlüssel-Branchen der Industrialisierung auf: Bei Versailles errichtete Guillaume-Philippe Oberkampf eine Textilfabrik , im lothringischen Hayange begann Jean-Martin Wendel, Gründer einer Dynastie von „Stahlbaronen“, 1704 mit der Eisenproduktion. Im späteren „Départment du Nord“ wurden 1720 Kohlefelder entdeckt – am Ende des Jahrhunderts beschäftigten die Bergwerke bereits Tausende Arbeiter.

Eine breite Industrialisierung jedoch kam nicht in Schwung – auch weil schlechte Transportwege und zahllose inländische Zollschranken den Absatz behinderten. Daran änderte auch der Ausbau der Wasserstraßen wenig: Schon am Ende des 17. Jahrhunderts war der berühmte Canal du Midi fertiggestellt worden, der vom Atlantik bei Bordeaux zum Mittelmeer bei Sète führt und Schiffern die Umrundung der iberischen Halbinsel ersparte. Im Herzen des Landes folgten nun insbesondere der Canal de Briare und der Canal du Centre, Teilstücke einer Kanal-Kette, die die Seine schließlich über die Saône mit dem Mittelmeer verbanden.

Die Revolution von 1789 förderte Handel und Gewerbe durch die Aufhebung von Zunftbeschränkungen und Binnenzöllen. Darüber hinaus vereinheitlichte Napoleon Bonaparte mit dem Code Civil das Rechtssystem, etablierte mit dem Franc eine stabile Währung und gründete die Banque de France. Dennoch blieb es bei wenigen industriellen Kernen.

Um 1830 hatten sich drei Zentren der Baumwollspinnerei gebildet: Im Norden des Landes bei Rouen, um Lille und Roubaix sowie im Elsass. Nachdem man 1842 auch bei Oignies Kohle gefunden hatte, angrenzend an das nördliche Revier, entstand die riesige Bergbauregion Nord-Pas de Calais. In Lothringen bauten die De Wendels die Eisenverarbeitung nach neuesten englischen Vorbildern aus. Zum wohl berühmtesten Stahlwerk Frankreichs aber entwickelte sich die Königliche Gießerei von Le Creusot im Burgund, die der Industrielle Eugène Schneider 1836 übernommen hatte: Er begründete mit der Produktion von Lokomotiven, Schienen und Waffen ein Imperium.

Den Aufbau des Bahnnetzes verzögerten starker Widerstand und die notorische Kapitalknappheit. Ein erster Zug brachte 1827 Kohle aus dem Revier um St. Etienne zur Verschiffung an die Loire, 1832 verlängert man die Route nach Lyon, die Metropole der Seidenweberei. Doch erst in den 1850er Jahren wurde mit einem strahlenförmig von Paris ausgehenden Streckennetz das ganze Land erschlossen, dazu kamen Querverbindungen etwa zwischen Bordeaux und Lyon oder Calais und Basel.

Jetzt nahm die Industrialisierung Fahrt auf. Im Norden eröffneten große Spinnereien in Fontaine-Guérard und Wazemmes bei Lille. In Lothringen expandierte das Stahlwerk von Hayange und als man 1858 Kohlevorkommen entdeckte, entstanden auch neue Bergwerke. In der traditionsreichen Papierherstellung um Angoulême und bei Annonay lief die technisierte, fabrikmäßige Produktion an. Der Dienstleistungssektor blühte ebenfalls auf: In Paris eröffnete „Bon Marché“, das erste der bald weltberühmten Kaufhäuser. Die Brüder Émile und Isaac Pereire, erbitterte Rivalen der Bankiers Rothschild, gründeten mit dem „Crédit Mobilier“ eine erste Investmentbank.

Am Ende des Jahrhunderts folgte ein weiterer Schub. Die Schwerindustrie in Lothringen profitierte, als man aus den dort anstehenden „Minette“-Erzen in einem neuen Verhüttungsverfahren den störenden Phosphor eliminieren konnte. Neue Bergwerke wuchsen aus dem Boden, 1878 begann in Uckange der Bau einer gewaltigen Hochofen-Gruppe. Zugleich etablierten sich Branchen der „Zweiten Industriellen Revolution“ wie Elektrotechnik, Chemie und Aluminiumherstellung.

Mit der erfolgreichen Industrialisierung war die Entstehung des zweiten französischen Kolonialreichs ab Mitte des 19. Jahrhunderts eng verbunden:  Die neuen Werke erzeugten einen ständig wachsenden Bedarf an Rohstoffen und an Absatzmärkten – und die europäischen Großmächte traten in einen zunehmend schärferen Wettbewerb darum. Frankeichs neue Kolonien erreichten ihre größte wirtschaftliche Bedeutung aber erst im 20. Jahrhundert: Die Länder Westafrikas erzeugten Agrargüter, Indochina (Vietnam, Kambodscha und Laos) lieferte anfangs vor allem Reis an Nachbarländer, später setzte der Abbau von Kohle und Erzen ein. Die Gewinnung von Kautschuk für die Gummi-Herstellung nahm nach der Jahrhundertwende Fahrt auf, als in Frankreich auch die industrielle Autoproduktion angelaufen war.

Den Autobau begannen Panhard und Lévassor 1886 in Paris. Drei Jahre später öffnete Renault im nahe gelegenen Boulogne-Billancourt seine Tore, in Sochaux folgte Peugeot, bei Lyon rollten Fahrzeuge aus der Werkstatt „Berliet“, bald bekannt für schwere LKW, und 1919 nahm Citroën die Produktion auf – wiederum bei Paris, wo die wichtigste Käuferschicht residierte: Adel und Hochfinanz orderten noch immer Luxusgüter aus Handwerksbetrieben, begründeten aber auch den Markt für das teure neue Transportmittel. Trotz allem trug die Landwirtschaft bis weit ins 20. Jahrhundert noch immer einen bedeutenden Anteil zur Wirtschaft bei.